Ein Aberglaube kommt selten allein.
Jetzt, da ich bereits Großvater bin, fühle ich mich verpflichtet, ein Geheimnis zu verraten, das ich bisher hinter dem unauffälligen Benehmen eines nüchternen, brillentragenden Intellektuellen verborgen habe. Ich bin in den letzten Jahren einem Laster verfallen. Ich wette gegen mich selbst. Und zwar wette ich, ob eine bestimmte Angelegenheit gut ausgehen wird oder nicht. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, und warum sollte es, sind die ersten Symptome dieser Wettleidenschaft bereits im Alter von neun Jahren bei mir aufgetreten.
Ich benutzte auf dem Schulweg immer den Rand des Gehsteigs und kam dabei auf folgende Wette: Wenn es mir gelingt, mit normal großen Schritten keine Querlinie auf den Randsteinen zu berühren, wird mir der Lehrer nicht draufkommen, dass ich die Hausaufgabe im Rechnen vergessen habe. Um es kurz zu machen, die Querlinien blieben unberührt, und der Lehrer war krank. So fing es an.
Mit 14, also an einem Wendepunkt meiner Biographie, ging ich einmal die vier Stockwerke von unserer Wohnung hinunter und setzte alles auf eine Karte. Wenn die letzte Stufe des Treppenhauses auf eine ungerade Zahl fällt, dann, so wettete ich mit mir, wird das Ziel meiner Sehnsucht, das blonde Mädchen aus der gegenüberliegenden Wäscherei, sich Hals über Kopf in mich verlieben. Bis heute erinnere ich mich an diese letzte Stufe. Sie fiel auf die Zahl 112. Ich habe mich nicht in Jolankas Nähe gewagt, und unsere hoffnungsvolle Liebe endete, vom Treppenhaus zum Tode verurteilt.
Manchmal wurde meine Besessenheit fast unerträglich, besonders während des Zweiten Weltkriegs. Eines regnerischen Nachmittags, am Budapester Donaukai, wehte mir der Sturm den Hut vom Kopf, und während ich losrannte, schloss ich eine Wette ab: Wenn ich den Hut erwische, bevor er ins Wasser fällt, wird Adolf den Krieg verlieren. Ich erwischte den Hut, bevor er ins Wasser fiel. Der Rest ist Geschichte. Das soll nicht heißen, dass ich das Schicksal des Dritten Reichs besiegelt habe. Aber immerhin...
Nach dem Krieg entspannte sich die Situation ein wenig. Nur noch gelegentlich wettete ich gegen mich, etwa dass ich mit geschlossenen Augen und ohne anzustoßen durch die nächste Türe gelangen müsste, um das Gelingen eines Plans herbeizuführen. Prompt stieß ich mit dem Kopf gegen den Türrahmen, und vorbei war es. Das Schlimmste ist, dass man die Wette nicht wiederholen darf. Wenn man gegen die Wand stößt, hat man verloren. So verlangen es die Regeln.
Ich hatte gehofft, dass ich mir das mit den Jahren abgewöhnen würde, aber jetzt wird es immer schlimmer. Und es tröstet mich nicht, dass auch andere dieser pseudoreligiösen Leidenschaft verfallen sind. Einer meiner Freunde macht lebenswichtige Entscheidungen davon abhängig, ob auf seinem morgendlichen Busticket die Ziffer 7 auftaucht. Ein anderer, im Bankwesen tätig, überlässt Entscheidungen des nächsten Tages dem Druckknopf seines Fernsehapparates: Wenn er ihn abstellen kann, bevor zum Programmabschluss die Nationalhymne beginnt, wird er eine bestimmte Transaktion durchführen. Wenn nicht, dann nicht.
Auch menschliche Elemente schleichen sich in die Wettsysteme ein. Ich mache einen Spaziergang, sehe einen anderen Spaziergänger auf mich zukommen und spüre in allen Knochen: Wenn ich den Laternenpfahl zwischen uns als erster erreiche, wird der Schekel nicht abgewertet. Eine solche Wette verlangt äußerste Fairness, denn es ist natürlich verboten, schneller zu gehen. Es ist bestenfalls erlaubt, ganz unauffällig längere Schritte zu machen.
*
Ähnliches spielt sich auf Rädern ab. Ich meine die »Bremsenlose Wette«, die sich unter Profis großer Beliebtheit erfreut. Dabei nähert sich der Fahrer bei roter Ampel langsam der Kreuzung und erreicht sie genau in dem Augenblick, wenn sie auf Grün wechselt. Wenn das gelingt, bleibt er während der nächsten Jahre gesund. Das ist übrigens eine Wette, die besonders starke Nerven voraussetzt. Einmal, ich hatte gerade auf das Glück meiner eigenen Familie gewettet, fuhr ich unaufhaltsam auf die rote Ampel zu, die erst im allerletzten Augenblick grün wurde. Ich müsste mir noch auf der Kreuzung den kalten Schweiß von der Stirne wischen. Aber die Zukunft meiner Kinder war gesichert.
Dann gibt es noch die »Honda- Wette«. Sie besteht, wie der Name andeutet, darin, dass man die Anzahl der Hondas errät, denen man zwischen Tel Aviv und Haifa begegnen wird. Wenn man die Wette ein paar Mal gewonnen hat, muss man allerdings gestehen, dass man das Resultat (843) im voraus weiß. Na und? Dann ist es eben eine kontrollierte Wette. Mal etwas anderes. Dann und wann kann man sich ruhig einen kleinen Schwindel erlauben. Wenn ich zum Beispiel bei rotem Licht vor einer Kreuzung anhalten muss und die Augen schließe, um sie genau beim Wechsel auf Grün zu öffnen, wird mir niemand ein kleines Blinzeln in Richtung Ampel verbieten. Kein vernünftiger Mensch begibt sich blindlings in Gefahr. Man lebt nur einmal.
Warum erzähle ich das alles? Ich erzähle es zwecks Hebung der öffentlichen Moral.
Ich fuhr nämlich gestern mit dem Aufzug zur 11. Etage unseres stolzen Wolkenkratzers, des Schalom-Turms, und ging eine höchst riskante Wette ein, indem ich den Knopf drückte, meine Augen schloss und die Etagen zu zählen begann. Die Wette ging um nicht mehr und nicht weniger als das Schicksal unseres Landes: »Wenn ich bis zur 11. Etage richtig zähle, werden wir endlich Frieden mit unseren arabischen Nachbarn haben.« Ich zählte mit äußerster Konzentration, und wirklich, als ich die Augen öffnete, hielt der Aufzug in der 11. Etage. Es stimmte auch umgekehrt, als der Aufzug in der 11. Etage hielt, öffnete ich die Augen. Es war ein vollkommen ausgewogenes, ganz und gar überzeugendes Resultat, ein Sieg auf der ganzen Linie.
Künftige Generationen, so hoffe ich, werden zu schätzen wissen, was ich für sie getan habe.
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Gestern Abend wurde Ephraim Kishon im Alter von 80 Jahren in der Schweiz durch einen Herzanfall zum Schriftsteller.
Jetzt, da ich bereits Großvater bin, fühle ich mich verpflichtet, ein Geheimnis zu verraten, das ich bisher hinter dem unauffälligen Benehmen eines nüchternen, brillentragenden Intellektuellen verborgen habe. Ich bin in den letzten Jahren einem Laster verfallen. Ich wette gegen mich selbst. Und zwar wette ich, ob eine bestimmte Angelegenheit gut ausgehen wird oder nicht. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, und warum sollte es, sind die ersten Symptome dieser Wettleidenschaft bereits im Alter von neun Jahren bei mir aufgetreten.
Ich benutzte auf dem Schulweg immer den Rand des Gehsteigs und kam dabei auf folgende Wette: Wenn es mir gelingt, mit normal großen Schritten keine Querlinie auf den Randsteinen zu berühren, wird mir der Lehrer nicht draufkommen, dass ich die Hausaufgabe im Rechnen vergessen habe. Um es kurz zu machen, die Querlinien blieben unberührt, und der Lehrer war krank. So fing es an.
Mit 14, also an einem Wendepunkt meiner Biographie, ging ich einmal die vier Stockwerke von unserer Wohnung hinunter und setzte alles auf eine Karte. Wenn die letzte Stufe des Treppenhauses auf eine ungerade Zahl fällt, dann, so wettete ich mit mir, wird das Ziel meiner Sehnsucht, das blonde Mädchen aus der gegenüberliegenden Wäscherei, sich Hals über Kopf in mich verlieben. Bis heute erinnere ich mich an diese letzte Stufe. Sie fiel auf die Zahl 112. Ich habe mich nicht in Jolankas Nähe gewagt, und unsere hoffnungsvolle Liebe endete, vom Treppenhaus zum Tode verurteilt.
Manchmal wurde meine Besessenheit fast unerträglich, besonders während des Zweiten Weltkriegs. Eines regnerischen Nachmittags, am Budapester Donaukai, wehte mir der Sturm den Hut vom Kopf, und während ich losrannte, schloss ich eine Wette ab: Wenn ich den Hut erwische, bevor er ins Wasser fällt, wird Adolf den Krieg verlieren. Ich erwischte den Hut, bevor er ins Wasser fiel. Der Rest ist Geschichte. Das soll nicht heißen, dass ich das Schicksal des Dritten Reichs besiegelt habe. Aber immerhin...
Nach dem Krieg entspannte sich die Situation ein wenig. Nur noch gelegentlich wettete ich gegen mich, etwa dass ich mit geschlossenen Augen und ohne anzustoßen durch die nächste Türe gelangen müsste, um das Gelingen eines Plans herbeizuführen. Prompt stieß ich mit dem Kopf gegen den Türrahmen, und vorbei war es. Das Schlimmste ist, dass man die Wette nicht wiederholen darf. Wenn man gegen die Wand stößt, hat man verloren. So verlangen es die Regeln.
Ich hatte gehofft, dass ich mir das mit den Jahren abgewöhnen würde, aber jetzt wird es immer schlimmer. Und es tröstet mich nicht, dass auch andere dieser pseudoreligiösen Leidenschaft verfallen sind. Einer meiner Freunde macht lebenswichtige Entscheidungen davon abhängig, ob auf seinem morgendlichen Busticket die Ziffer 7 auftaucht. Ein anderer, im Bankwesen tätig, überlässt Entscheidungen des nächsten Tages dem Druckknopf seines Fernsehapparates: Wenn er ihn abstellen kann, bevor zum Programmabschluss die Nationalhymne beginnt, wird er eine bestimmte Transaktion durchführen. Wenn nicht, dann nicht.
Auch menschliche Elemente schleichen sich in die Wettsysteme ein. Ich mache einen Spaziergang, sehe einen anderen Spaziergänger auf mich zukommen und spüre in allen Knochen: Wenn ich den Laternenpfahl zwischen uns als erster erreiche, wird der Schekel nicht abgewertet. Eine solche Wette verlangt äußerste Fairness, denn es ist natürlich verboten, schneller zu gehen. Es ist bestenfalls erlaubt, ganz unauffällig längere Schritte zu machen.
*
Ähnliches spielt sich auf Rädern ab. Ich meine die »Bremsenlose Wette«, die sich unter Profis großer Beliebtheit erfreut. Dabei nähert sich der Fahrer bei roter Ampel langsam der Kreuzung und erreicht sie genau in dem Augenblick, wenn sie auf Grün wechselt. Wenn das gelingt, bleibt er während der nächsten Jahre gesund. Das ist übrigens eine Wette, die besonders starke Nerven voraussetzt. Einmal, ich hatte gerade auf das Glück meiner eigenen Familie gewettet, fuhr ich unaufhaltsam auf die rote Ampel zu, die erst im allerletzten Augenblick grün wurde. Ich müsste mir noch auf der Kreuzung den kalten Schweiß von der Stirne wischen. Aber die Zukunft meiner Kinder war gesichert.
Dann gibt es noch die »Honda- Wette«. Sie besteht, wie der Name andeutet, darin, dass man die Anzahl der Hondas errät, denen man zwischen Tel Aviv und Haifa begegnen wird. Wenn man die Wette ein paar Mal gewonnen hat, muss man allerdings gestehen, dass man das Resultat (843) im voraus weiß. Na und? Dann ist es eben eine kontrollierte Wette. Mal etwas anderes. Dann und wann kann man sich ruhig einen kleinen Schwindel erlauben. Wenn ich zum Beispiel bei rotem Licht vor einer Kreuzung anhalten muss und die Augen schließe, um sie genau beim Wechsel auf Grün zu öffnen, wird mir niemand ein kleines Blinzeln in Richtung Ampel verbieten. Kein vernünftiger Mensch begibt sich blindlings in Gefahr. Man lebt nur einmal.
Warum erzähle ich das alles? Ich erzähle es zwecks Hebung der öffentlichen Moral.
Ich fuhr nämlich gestern mit dem Aufzug zur 11. Etage unseres stolzen Wolkenkratzers, des Schalom-Turms, und ging eine höchst riskante Wette ein, indem ich den Knopf drückte, meine Augen schloss und die Etagen zu zählen begann. Die Wette ging um nicht mehr und nicht weniger als das Schicksal unseres Landes: »Wenn ich bis zur 11. Etage richtig zähle, werden wir endlich Frieden mit unseren arabischen Nachbarn haben.« Ich zählte mit äußerster Konzentration, und wirklich, als ich die Augen öffnete, hielt der Aufzug in der 11. Etage. Es stimmte auch umgekehrt, als der Aufzug in der 11. Etage hielt, öffnete ich die Augen. Es war ein vollkommen ausgewogenes, ganz und gar überzeugendes Resultat, ein Sieg auf der ganzen Linie.
Künftige Generationen, so hoffe ich, werden zu schätzen wissen, was ich für sie getan habe.
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Gestern Abend wurde Ephraim Kishon im Alter von 80 Jahren in der Schweiz durch einen Herzanfall zum Schriftsteller.
Eriador - am Sonntag, 30. Januar 2005, 10:54
jazz_und_mehr meinte am 30. Jan, 12:04:
Das ist sehr traurig. Aber seine Bücher, Texte und Theaterstücke sind ein schönes Erbe, das ihn lebendig halten wird.
Eriador antwortete am 30. Jan, 12:12:
Seine Bücher waren die ersten die ich meiner Mutter aus dem Regal gemopst hab : ) Worauf sie mir lange Zeit bei jeder Gelegenheit eins geschenkt hat, damit ich ihre in Ruhe lasse : )
Budenzauberin meinte am 30. Jan, 15:02:
Das ruft in mir die Erinnerung wach, daß ich meinem Vater mal mit so 19, 20 Jahren ein Buch von Kishon geschenkt habe. Ich merkte, daß seine Freude irgendwie nicht echt war, konnte es aber nicht einordnen und habe auch nie nachgefragt, schrieb es einer seiner Launen zu. Jahre später erfuhr ich von meiner Mutter, daß mein Vater Kishon nicht mochte. Weil er Jude ist. Von da an mochte ich Kishon um den Teil mehr, den ich meinen Vater nicht mehr mochte. Und das war nicht wenig.Mag Kishon einen besseren & wärmeren Platz "da oben" finden als ausgerechnet neben meinem Vater.
Eriador antwortete am 30. Jan, 15:12:
Möge Kishon ihm einen seiner dicksten Wälzer über den Kopf ziehen!
ker0zene meinte am 31. Jan, 19:26:
Ein großartiger Schriftsteller und Satiriker. Als Grundschüler sah ich irgendwann mal den Titel "Der Blaumilchkanal" in der Fernsehzeitung und fragte mich, wer sich denn sowas ausdenkt. Bis ich Kishons Augenzwinkern verstand strichen dann noch ein paar Jahre ins Land.Bei seiner Überführung nach Israel gibt es vermutlich wegen behördlicher Probleme eine Irrfahrt durch 57 Staaten (oder 56, falls China an der Grenze Probleme macht). Das wird etwa 4 Jahre dauern, bevor der Sarg dann letztendlich irtümlich ins falsche Grab gelassen wird.
Das wäre in seinem Sinne gewesen.
Eriador antwortete am 31. Jan, 20:01:
Er wird sich in den Hintern beißen, dass er darüber nichts mehr schreiben kann ; )