Ist es nicht seltsam, dass die größten Veränderungen im Leben häufig so irgendwie nebenher passieren. Man macht einen Schritt in eine andere Richtung, trifft eine Entscheidung dafür oder dagegen, geht nach rechts statt wie sonst immer nach links und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Veränderungen im Großen, die man vorwiegend an den Veränderungen im Kleinen realisiert.

Dieses Jahr ist es zehn Jahre her, dass ich es kaum mehr erwarten konnte meine letzten Kartons zu packen, meine Schränke abzubauen und meine Matratze in Cs Auto zu falten und mit Sack und Pack das Haus meiner Eltern zu verlassen um in eine kleine WG mit völlig fremden Menschen zu ziehen. Damals eine Entscheidung die binnen eines Lidschlags gefällt war, geboren aus den nicht enden wollenden Schwierigkeiten zu Hause, der immer unzumutbarer werdenden Situation mit meinem Stiefvater, dem Drang danach frei zu sein und Frieden zu finden. Ich konnte es nicht erwarten zu gehen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich irgendwann in meinem ersten oder zweiten Jahr nachdem ich ausgezogen war einmal mit Bedauern umgeblickt hätte, dass ich einmal zurückgeschaut hätte und mich danach gesehnt hätte in das zurück zu kehren, was andere den Schoß der Familie nennen. Ich wollte weg. Einfach nur raus. Eine Tür sollte zufallen und damit den Blick auf nicht enden wollenden Streit, Unzufriedenheit und all die diffizilen Ängste von Kindheit und Jugend verschließen. Die nächste Tür sollte sich öffnen und verhieß goldene Freiheit, Unabhängigkeit und die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben. Weg vom alten zu Hause, weg von den Fesseln eines Elternhauses in dem Familie nie mehr als ein Wort war und hin in ein neues, das Geborgenheit und Sicherheit verhieß, in dem alle Möglichkeiten offen waren weil ich den Schlüssel für mein Glück selbst in der Hand hatte.

Heute weiß ich wie groß dieser Schritt damals wirklich war, bin mir deutlich der Tatsache bewusst, das es vielmehr eine Flucht als ein Gang war. Es hat lange gedauert, bis sich alte Wunden geschlossen hatten, manche heilen heute noch, lange Zeit gab es nichts, was ich vermisst oder glorifiziert hätte. Nicht das ich mich nicht nach der Geborgenheit und Liebe einer Familie gesehnt hätte, doch die Erfahrung hat mich gelehrt, dass das nichts war, was ich bei meinen Eltern hätte finden können.

Nach und nach, mit der Zeit, mit dem Heilen der Verletzungen, mit dem Älter werden und dem Verstehen wurden mir im Kleinen Dinge bewusst, die für mich zu Hause bedeuten, Momente, die unwiederbringlich vorbei sind, da sie Teil meiner Kindheit und Jugend sind, einer Zeit die ich hinter mir gelassen habe, als ich Cs Kofferraum zugedrückt habe und wir lachend und schwatzend von meiner weinenden Mutter weg in meine Zukunft gefahren sind.

Ich hatte immer Angst davor, dass ich irgendwann beginne die Vergangenheit in leuchtenderen Farben zu malen, als es ihr gebührt, zu werden, wie meine Mutter, was damals die grauenhafteste Zukunft war, die ich mir hätte vorstellen können. Ich hatte Angst davor wie sie hinzugehen und schönzumalen was in meinen Augen verachtenswert war. Heute beginne ich zu verstehen, dass sie mit der Zeit und mit dem Heilen ihrer Wunden genauso wie ich heute begonnen hat ihre Eltern zu verstehen, ihr Handeln im Kontext ihrer Situation zu sehen und nicht alles und jedes darauf herunterzubrechen, dass sie schlechte Eltern waren oder besser keine Kinder hätten haben sollen, genauso wie ich heute hat sie damals begonnen ihren Frieden mit sich zu machen und damit die Wunden ihrer Kinderheit zu schließen, sie hat der Vergangenheit ihren Frieden gegeben, daraus gelernt, sich umgedreht und den Blick nach vorne gerichtet, um zu versuchen im Bewusstsein dessen was war, zu beeinflussen was immer auf sie zu kommen würde. Sie hat gelernt, dass ihre Eltern sie geliebt haben, wie schwer es manchmal auch gewesen sein mag.

Heute weiß ich, dass das was ich verächtlich als Schönmalerei abgetan habe, nichts weiter war, als der Versuch zu verstehen und Frieden zu finden. Und jetzt, nachdem ich diesen Weg selber gegangen bin, bin ich in der Lage zu sehen, was damals keinen Wert für mich hatte. Ich beginne, die Vergangenheit mit anderen Augen zu sehen, die Dinge bekommen einen anderen Wert, eine andere Position. Kleine Dinge sind es heute, die für mich „zu Hause“ im Sinne eines Elternhauses bedeuten, das Geräusch von rauschenden Wasser aus dem Bad neben meinem Zimmer, morgens um halb sechs, wenn meine Mutter mit gebeugtem Rücken über der Badewanne stand um sich die Haare zu waschen, die Kaffeetasse meines Stiefvaters, die außer ihm keiner anfassen durfte, der Geruch den der Berberteppich meiner Mutter ihm Wohnzimmer verströmte wenn die Sonne ihn erwärmte, das Ticken unzähliger Uhren, meine Angewohnheit immer „Aua“ zu sagen wenn ich irgendwo anecke (eine Angewohnheit die ich so verinnerlicht habe, dass es mir auch heute 10 Jahre später noch nicht gelingt, nichts zu sagen), weil es mich gelehrt hat, dass ich so einen Anschiss vermeide dafür dass ich ständig irgendwo gegen renne, abtrocknen nach dem Sonntagsessen und viele dieser Dinge mehr.

Das aufblitzen dieser Dinge in der Gegenwart gibt mir Frieden mit der Vergangenheit, gibt as doch auch mir Momente, die mich mit Sehnsucht und warmen Erinnerungen erfüllen.

Große Veränderungen die sich im Kleinen zeigen, ein scheinbar bewusster Schritt, der alles verändert und die Gegenwart zu Vergangenheit macht. Diese Woche habe ich ein Nutella Glas geöffnet, das ich ein paar Tage zuvor gekauft habe und war erfreut wie ein kleines Kind, dass ich die goldene Folie abziehen und die unberührte Schokofläche als erste durchbrechen würde, ein Gefühl wie erste Schritte auf einer unberührten Schneefläche. Noch während ich mein Brötchen geschmiert habe wurde mir bewusst, dass das eine neuerliche Erinnerung an ein altes zu Hause war, ein zu Hause, dass ich vor zwei Monaten im Stress meiner Diplomarbeit und der Vorfreude das erste Mal in meinem Leben allein zu wohnen verlassen habe und von dem mir heute bewusst wird, dass ich es nicht wenige Dinge gibt, die ich vermissen werde, nicht zuletzt das Gefühl immer zu spät zu kommen, wenn die Hand, die das noch nicht einmal eine Woche alte Nutellaglas hochhebt noch im Greifen bemerkt, dass das Gewicht darauf schließen lässt, dass der Inhalt wohl wieder einmal mit dem Löffel erobert wurde und ich von Glück reden kann, wenn ich noch genug für eine Scheibe Toast zusammen bekomme.

Seltsam wie viel mehr ein zu Hause ist, wie viel mehr als ein paar Wände aus Holz und Stein, wie viel mehr als Möbel, Bücher, Licht und Musik. Seltsam wie sehr viel mehr ein zu Hause von Sicherheit und Geborgenheit geprägt wird. Von der Gegenwart oder Abwesenheit von Dingen, Geräuschen und Gerüchen. Seltsam wie traurig man allein durch den Anblick eines Nutella Glases, eines verwaisten Schachbrettes, durch den Geruch einer Wärmflasche oder ein Geräusch werden kann. Seltsam wie viel Frieden diese Traurigkeit trotz allem in sich birgt, ist sie doch ein Zeichen dafür dass das was da war, nicht weg ist nur weil es Vergangenheit ist, schließlich ist es doch die Zukunft, die aus unserer Vergangenheit wächst.

Mit einer der elendsten Zustände die ich mir vorstellen kann ist: nicht aufhören können nach dem Warum zu fragen. Selbst wenn man weiß, dass es nahezu keine Aussicht auf eine zufrieden stellende Antwort gibt, ja wenn man eigentlich sogar weiß, das eine Antwort wie gut sie auch sein mag, nichts ändern würde und man sich darüber hinaus im Klaren darüber ist, dass man einzige Antwort die es zu finden gibt, längst erhalten hat.

Stellt sich die Frage nach der Suche, ist es eine Antwort die man zu finden sucht, oder Hoffnung?

 

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